Mobilität ist ein Haupttreiber für Inklusion. Bei der Konzeption und Weiterentwicklung von Mobilitätssystemen müssen deshalb deren Nutzer:innen im Mittelpunkt stehen – sonst droht Menschen mit besonderen Mobilitätsbedürfnissen soziale Exklusion. Verantwortliche urbaner Mobilitätssysteme stehen vor der Herausforderung, effektive Verbesserungsmassnahmen für ihre Stadt zu identifizieren und erfolgreich umzusetzen. Mit dem Report „How Mobility Shapes Inclusion and Sustainable Growth in Global Cities“ geben die Universität St. Gallen, die Boston Consulting Group (BCG) und das World Economic Forum (WEF) diesen Entscheider:innen einen Leitfaden an die Hand.

Drei Städte im Fokus: Chicago, Berlin & Peking

Im Rahmen des Forschungsprojekts entstand mithilfe eines innovativen Mobilitätsmodells und rund 50 Interviews ein Leitfaden mit über 40 potentiellen Massnahmen für inklusivere urbane Mobilität. Eine Haupterkenntnis unserer quantitativen Betrachtungen: Relativ einfache Mobilitätsinitiativen können große Wirkung entfalten, wie Beispiele aus den drei fokussierten Städten zeigen.
In der Auto-Stadt Chicago lebt ein Großteil der ärmeren Bevölkerung im öffentlich schlecht angebunden Süden und Westen der Stadt. Anwohner:innen müssen häufig umständliche Transportmittelwechsel und lange Fußwege in Gegenden mit hoher Straßenkriminalität fürchten. Sogenannte «On-Demand Shuttles» versprächen laut Modellrechnung den Menschen nahezu eine Verdopplung (+90%) erreichbarer Jobs und einen sicheren Weg von/zur Haltestelle. Mit einer um +28% gesteigerten ÖPNV-Nutzung würde auch die Umwelt profitieren.
Auch in Berlin sind solche Lösungen vielversprechend. Die Gentrifizierung zentral gelegener Kieze treibt immer mehr Menschen in äussere Stadtteile. Durch integrierte «letzte Meile» Angebote wie z.B. Bike-Sharing und On-Demand Shuttles kann die Reichweite des ÖPNV merklich verbessert werden. Menschen in äusseren Stadtteilen könnten +37% mehr Jobs erreichen. Die ÖPNV-Nutzung würde sich um +5% erhöhen.
In der Mega-City Peking werden jährlich rund 13 Milliarden Trips absolviert – die Größe bringt das Mobilitätssystem täglich an die Belastungsgrenze: Zur Rush-Hour warten Pekinger:innen bis zu 20min vor der U-Bahn-Station. Bei winterlicher Kälte oder sommerlicher Hitze stehen z.B. Ältere, Schwangere und Menschen mit physischen oder kognitiven Einschränkungen vor großen Herausforderungen. Ein Online-Reservierungssystem für betroffene Stationen könnte die Pendelzeiten um bis zu 29% reduzieren.

Fünf Haupterkenntnisse aus unseren Gesprächen mit Expert:innen und Betroffenen

Bei der Inklusionsfrage müssen Betroffene und deren individuellen Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Gespräche mit lokalen Expert:innen und Betroffenen brachten deshalb wertvolle Einblicke. Aus der qualitativen Perspektive ergeben sich insbesondere fünf Haupterkenntnisse.

1. Wirklich alle Menschen sollten berücksichtigt werden!
Betroffene und Expert:innen berichteten: Häufig wird unter dem Begriff «Inklusion» der Einschluss ärmerer Mitbürger:innen und Menschen mit physischen Einschränkungen verstanden. Dabei sollten – frei von jedweder Priorisierung – alle Bürger:innen bedacht werden, die im Mobilitätskontext häufig Benachteiligungen erfahren. Fünf Gruppen standen deshalb in diesem Projekt im Fokus:

  1. Menschen mit geringem Einkommen können sich Mobilität häufig nicht leisten, während
  2. Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen, ähnlich wie
  3. Ältere, viele Angebote aus individuellen Gründen nicht nutzen können. Unterschiedlichste Mobilitätshürden erfahren häufig auch
  4. Minderheiten (z.B. sprachliche Barrieren für Menschen mit Migrationsgeschichte) und
  5. Frauen (z.B. subjektive und objektive Sicherheit im ÖPNV).

2. Neue Mobilitätsangebote birgen hohe Risiken – aber auch große Chancen!
Neue, digitale Angebote bringen zusätzliche Herausforderungen, wie drei Beispiel zeigen: Ärmere Bevölkerungsgruppen können sich E-Scooter- oder Car-Sharing häufig nicht leisten oder leben in Stadtteilen, in denen die Services schlichtweg nicht angeboten werden. Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Ältere sind mit Smartphone und Zahlungsabwicklung häufig überfordert. Und zukünftige Angebote wie autonome Shuttles könnten Menschen mit physischen Behinderungen im «Worst Case» gänzlich ausschliessen. Gleichwohl bietet die Digitalisierung auch Chancen für die Mobilitätsnutzer:innen. Beispielsweise ermöglichen innovative Smartphone Apps eine erleichterte Mobilität für Menschen mit Orientierungsproblemen oder Sichteinschränkungen. Zusätzlich bietet die Digitalisierung großes Potential für das Mobilitätsystem als Ganzes: Big Data und Advanced Analytics können für eine effizientere Auslastung des ÖPNV sorgen. Auch autonome Shuttles und Busse können zukünftig Personal entlasten. Die dadurch freigewordenen Ressourcen – sowohl finanziell als auch personell – könnten und sollten zur Erhöhung der Service-Qualität für Menschen mit besonderen Bedürfnissen genutzt werden. Ein flächendeckender persönlicher Hilfeservice (z.B. in Shuttles, an Bahnhöfen, …) und der Ausbau vollumfänglich barrierefreier Informationsinfrastruktur sind nur zwei Beispiele.

3. Gentrifizierung verschärft die Herausforderungen inklusiver Mobilität weiter!
Wie zuvor erwähnt, treibt die Gentrifizierung zentraler Berliner Kieze immer mehr Menschen in äussere Stadtteile. Das birgt aus der Perspektive inklusiver Mobilität doppelt negative Konsequenzen: Einerseits werden benachteiligte Bevölkerungsgruppen aus ihrem gewohnten Umfeld heraus in benachteiligte, häufig periphere Gegenden verdrängt. Andererseits sind diese peripheren Gegenenden häufig schlechter an vorhandene Mobilitätssysteme angeschlossen und führen für Menschen mit sozioökonomisch schwachem Status zu gefährlichen Teufelskreisen: Die potenziell erreichbaren Jobs werden noch weniger, und die Hürden für Teilhabe an der Gesellschaft durch umständliche Pendelei immer schwieriger. Die zuvor erwähnten «letzte Meile» – Angebote können einen Lösungsansatz bieten, sofern diese dann für benachteiligte Bevölkerungsgruppen nutzbar sind.

4. Es braucht unkonventionelle Finanzierungsmodelle und ressortübergreifendes Denken!
Mit Blick auf die durch Corona noch grösser gewordenen Löcher in den Kassen der Kommunen, kann die Finanzierung von Inklusionsmassnahmen zweifelsfrei eine grosse Herausforderung bedeuten. Wir schlagen vor, mit einem offenen Blick auch unkonventionelle Finanzierungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen und ressortübergreifend zu denken. Die zuvor erwähnten Potentiale durch Digitalisierung sollten in inklusivere Mobilitätslösungen investiert werden. Auch Quersubventionierung von Massnahmen durch neue Premiumangebote könnte eine Lösung sein. Das Einführen einer «Business Class» im ÖPNV – z.B. für Gutverdiener:innen in städtischen Randgebieten mit langen Pendelzeiten in die Innenstadt – verspräche laut Modellrechnungen eine Nachfragesteigerung im ÖPNV um +11% (PKW-Nachfrage sinkt um -4%) und eine Umsatzsteigerung von rund +28%. Darüber hinaus sollten sinnvolle Gelegenheiten wie brandschutztechnische Renovierungen alter Gebäude genutzt werden, um sonst komplizierte Inklusionsmassnahmen (z.B. Ebenerdige Zugänge in denkmalgeschützten Gebäuden) direkt mit in Angriff zu nehmen und damit auch nichtfinanzielle Hürden zu überwinden.

5. Sowohl Angebot als auch Nachfrage müssen im Fokus stehen!
Um „Inklusion durch Mobilität“ tatsächlich zu realisieren, muss neben dem Angebot allerdings auch die Nachfrage berücksichtigt werden. Mobilität kann ein Kerntreiber für Inklusion sein, aber nicht jede Form der Teilhabe wird durch Mobilität erreicht. In vielen Fällen braucht es weitere Faktoren, z.B. gesellschaftliche Offenheit, Interesse oder – ganz einfach – Geld. Einer Familie mit niedrigem Einkommen wird eine bessere Anbindung an das nächste Kino nicht helfen, wenn sie sich das Kino selbst nicht leisten kann. Ein reiner Ausbau der Mobilitätsinfrastruktur führt also nicht immer zu den gewünschten Ergebnissen. Die Ergebnisse aus Berlin verdeutlichen einige dieser Erkenntnisse anschaulich.

Fokus Berlin: für die polyzentrische Kiez-Stadt ist allein «mehr Angebot» keine Lösung

Berlin ist eine polyzentrische Stadt mit hoher Strahlkraft und enormem Wachstum. Dennoch gehören gewisse Stadtteile zu den ärmsten Regionen Deutschlands. Soziale Brennpunkte liegen Tür an Tür mit stark gentrifizierten Stadtvierteln. Relativ betrachtet, hat Berlin ein starkes ÖPNV-System bei welchem «Ost-West» keine große Rolle spielt (wenngleich sich das Mobilitätsangebot z.B. bei Straßenbahnen durchaus unterscheidet). Trotz des hohen Leistungsniveaus des ÖPNV besteht grosses Potential für inklusivere Mobilitätssysteme. Unzuverlässige Barrierefreiheit aufgrund fehleranfälliger Fahrstühle, schlechte Informationsinfrastruktur für z.B. Blinde oder Menschen mit kognitiven Einschränkungen, sowie komplizierte Ticketautomaten sind nur einige Beispiele, die uns Expert:innen und Betroffene schilderten.
Dabei nimmt Berlin die Inklusionsfrage sehr ernst, wie ein beispielhafter Blick auf vier bereits bestehende bzw. eingeleitete Verbesserungsmassnahmen zeigt:

  1. Das Berliner Mobilitätsgesetz hält erstmalig die Bevorzugung des Umweltverbundes «ÖPNV, Fahrrad, Fuss» gegenüber PKW auf legislativer Grundlage fest und definiert inklusive Mobilität als höchstes Ziel.
  2. Der Berlin Pass ermöglicht Menschen mit geringem Einkommen Mobilität zu niedrigen Monatspreisen.
  3. Die Erweiterung der 10-Minuten-Taktung im ÖPNV verbessert das Mobilitätsangebot für Menschen, die in äussere Stadtbezirke verdrängt wurden und verringert lange Wartezeiten zu später Stunde an verlassenen Bahnsteigen.
  4. Das «BerlMobil» (ehemals «Sonderfahrdienst») ermöglicht persönlichen Support für Ältere und mobilitätseingeschränkte Berliner:innen.

Dennoch lassen sich die sozialen Herausforderungen in Berlin nicht einzig auf typische Mobilitätslücken zurückführen. Transportmittel sind nicht die alleinigen Determinanten urbaner Mobilität. Eine Reihe weniger greifbarer, schwer zu messenden Faktoren, die das Mobilitätsverhalten einer Bevölkerung prägen (wie Kultur, Bildung, soziale Wahrnehmung, Gemeinschaftsstruktur und Sprache) sind ebenfalls zu beachten. In Berlin beschränken viele Bürger:innen ihre eigene Mobilität auf einen einzigen Stadtteil. Der polyzentrische Charakter der Stadt erlaubt, dass diese Gemeinschaften dennoch Arbeit und Ausbildung finden können, ohne viel und lange «unterwegs» sein zu müssen. Massnahmen, die Stadtteil-übergreifende Mobilität fokussieren, brächten also nicht zwangsläufig die gleichen positiven Effekte wie z.B. in Chicago. Alles in allem dürfen sich inklusive Mobilitätssysteme also nicht nur auf das Schaffen von Verkehrsangebot konzentrieren. Vielmehr sollten sie die Nachfrageseite, also die Bürger:innen Berlins, in den Mittelpunkt stellen.

Kontakt

Dr. Philipp Scharfenberger, philipp.scharfenberger@unisg.ch
Philipp Silvestri, philipp.silvestri@unisg.ch

Mobilität ist ein Haupttreiber für Inklusion. Bei der Konzeption und Weiterentwicklung von Mobilitätssystemen müssen deshalb deren Nutzer:innen im Mittelpunkt stehen – sonst droht Menschen mit besonderen Mobilitätsbedürfnissen soziale Exklusion. Verantwortliche urbaner Mobilitätssysteme stehen vor der Herausforderung, effektive Verbesserungsmassnahmen für ihre Stadt zu identifizieren und erfolgreich umzusetzen. Mit dem Report „How Mobility Shapes Inclusion and Sustainable Growth in Global Cities“ geben die Universität St. Gallen, die Boston Consulting Group (BCG) und das World Economic Forum (WEF) diesen Entscheider:innen einen Leitfaden an die Hand.

Drei Städte im Fokus: Chicago, Berlin & Peking

Im Rahmen des Forschungsprojekts entstand mithilfe eines innovativen Mobilitätsmodells und rund 50 Interviews ein Leitfaden mit über 40 potentiellen Massnahmen für inklusivere urbane Mobilität. Eine Haupterkenntnis unserer quantitativen Betrachtungen: Relativ einfache Mobilitätsinitiativen können große Wirkung entfalten, wie Beispiele aus den drei fokussierten Städten zeigen.
In der Auto-Stadt Chicago lebt ein Großteil der ärmeren Bevölkerung im öffentlich schlecht angebunden Süden und Westen der Stadt. Anwohner:innen müssen häufig umständliche Transportmittelwechsel und lange Fußwege in Gegenden mit hoher Straßenkriminalität fürchten. Sogenannte «On-Demand Shuttles» versprächen laut Modellrechnung den Menschen nahezu eine Verdopplung (+90%) erreichbarer Jobs und einen sicheren Weg von/zur Haltestelle. Mit einer um +28% gesteigerten ÖPNV-Nutzung würde auch die Umwelt profitieren.
Auch in Berlin sind solche Lösungen vielversprechend. Die Gentrifizierung zentral gelegener Kieze treibt immer mehr Menschen in äussere Stadtteile. Durch integrierte «letzte Meile» Angebote wie z.B. Bike-Sharing und On-Demand Shuttles kann die Reichweite des ÖPNV merklich verbessert werden. Menschen in äusseren Stadtteilen könnten +37% mehr Jobs erreichen. Die ÖPNV-Nutzung würde sich um +5% erhöhen.
In der Mega-City Peking werden jährlich rund 13 Milliarden Trips absolviert – die Größe bringt das Mobilitätssystem täglich an die Belastungsgrenze: Zur Rush-Hour warten Pekinger:innen bis zu 20min vor der U-Bahn-Station. Bei winterlicher Kälte oder sommerlicher Hitze stehen z.B. Ältere, Schwangere und Menschen mit physischen oder kognitiven Einschränkungen vor großen Herausforderungen. Ein Online-Reservierungssystem für betroffene Stationen könnte die Pendelzeiten um bis zu 29% reduzieren.

Fünf Haupterkenntnisse aus unseren Gesprächen mit Expert:innen und Betroffenen

Bei der Inklusionsfrage müssen Betroffene und deren individuellen Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Gespräche mit lokalen Expert:innen und Betroffenen brachten deshalb wertvolle Einblicke. Aus der qualitativen Perspektive ergeben sich insbesondere fünf Haupterkenntnisse.

1. Wirklich alle Menschen sollten berücksichtigt werden!
Betroffene und Expert:innen berichteten: Häufig wird unter dem Begriff «Inklusion» der Einschluss ärmerer Mitbürger:innen und Menschen mit physischen Einschränkungen verstanden. Dabei sollten – frei von jedweder Priorisierung – alle Bürger:innen bedacht werden, die im Mobilitätskontext häufig Benachteiligungen erfahren. Fünf Gruppen standen deshalb in diesem Projekt im Fokus:

  1. Menschen mit geringem Einkommen können sich Mobilität häufig nicht leisten, während
  2. Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen, ähnlich wie
  3. Ältere, viele Angebote aus individuellen Gründen nicht nutzen können. Unterschiedlichste Mobilitätshürden erfahren häufig auch
  4. Minderheiten (z.B. sprachliche Barrieren für Menschen mit Migrationsgeschichte) und
  5. Frauen (z.B. subjektive und objektive Sicherheit im ÖPNV).

2. Neue Mobilitätsangebote birgen hohe Risiken – aber auch große Chancen!
Neue, digitale Angebote bringen zusätzliche Herausforderungen, wie drei Beispiel zeigen: Ärmere Bevölkerungsgruppen können sich E-Scooter- oder Car-Sharing häufig nicht leisten oder leben in Stadtteilen, in denen die Services schlichtweg nicht angeboten werden. Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Ältere sind mit Smartphone und Zahlungsabwicklung häufig überfordert. Und zukünftige Angebote wie autonome Shuttles könnten Menschen mit physischen Behinderungen im «Worst Case» gänzlich ausschliessen. Gleichwohl bietet die Digitalisierung auch Chancen für die Mobilitätsnutzer:innen. Beispielsweise ermöglichen innovative Smartphone Apps eine erleichterte Mobilität für Menschen mit Orientierungsproblemen oder Sichteinschränkungen. Zusätzlich bietet die Digitalisierung großes Potential für das Mobilitätsystem als Ganzes: Big Data und Advanced Analytics können für eine effizientere Auslastung des ÖPNV sorgen. Auch autonome Shuttles und Busse können zukünftig Personal entlasten. Die dadurch freigewordenen Ressourcen – sowohl finanziell als auch personell – könnten und sollten zur Erhöhung der Service-Qualität für Menschen mit besonderen Bedürfnissen genutzt werden. Ein flächendeckender persönlicher Hilfeservice (z.B. in Shuttles, an Bahnhöfen, …) und der Ausbau vollumfänglich barrierefreier Informationsinfrastruktur sind nur zwei Beispiele.

3. Gentrifizierung verschärft die Herausforderungen inklusiver Mobilität weiter!
Wie zuvor erwähnt, treibt die Gentrifizierung zentraler Berliner Kieze immer mehr Menschen in äussere Stadtteile. Das birgt aus der Perspektive inklusiver Mobilität doppelt negative Konsequenzen: Einerseits werden benachteiligte Bevölkerungsgruppen aus ihrem gewohnten Umfeld heraus in benachteiligte, häufig periphere Gegenden verdrängt. Andererseits sind diese peripheren Gegenenden häufig schlechter an vorhandene Mobilitätssysteme angeschlossen und führen für Menschen mit sozioökonomisch schwachem Status zu gefährlichen Teufelskreisen: Die potenziell erreichbaren Jobs werden noch weniger, und die Hürden für Teilhabe an der Gesellschaft durch umständliche Pendelei immer schwieriger. Die zuvor erwähnten «letzte Meile» – Angebote können einen Lösungsansatz bieten, sofern diese dann für benachteiligte Bevölkerungsgruppen nutzbar sind.

4. Es braucht unkonventionelle Finanzierungsmodelle und ressortübergreifendes Denken!
Mit Blick auf die durch Corona noch grösser gewordenen Löcher in den Kassen der Kommunen, kann die Finanzierung von Inklusionsmassnahmen zweifelsfrei eine grosse Herausforderung bedeuten. Wir schlagen vor, mit einem offenen Blick auch unkonventionelle Finanzierungsmöglichkeiten in Betracht zu ziehen und ressortübergreifend zu denken. Die zuvor erwähnten Potentiale durch Digitalisierung sollten in inklusivere Mobilitätslösungen investiert werden. Auch Quersubventionierung von Massnahmen durch neue Premiumangebote könnte eine Lösung sein. Das Einführen einer «Business Class» im ÖPNV – z.B. für Gutverdiener:innen in städtischen Randgebieten mit langen Pendelzeiten in die Innenstadt – verspräche laut Modellrechnungen eine Nachfragesteigerung im ÖPNV um +11% (PKW-Nachfrage sinkt um -4%) und eine Umsatzsteigerung von rund +28%. Darüber hinaus sollten sinnvolle Gelegenheiten wie brandschutztechnische Renovierungen alter Gebäude genutzt werden, um sonst komplizierte Inklusionsmassnahmen (z.B. Ebenerdige Zugänge in denkmalgeschützten Gebäuden) direkt mit in Angriff zu nehmen und damit auch nichtfinanzielle Hürden zu überwinden.

5. Sowohl Angebot als auch Nachfrage müssen im Fokus stehen!
Um „Inklusion durch Mobilität“ tatsächlich zu realisieren, muss neben dem Angebot allerdings auch die Nachfrage berücksichtigt werden. Mobilität kann ein Kerntreiber für Inklusion sein, aber nicht jede Form der Teilhabe wird durch Mobilität erreicht. In vielen Fällen braucht es weitere Faktoren, z.B. gesellschaftliche Offenheit, Interesse oder – ganz einfach – Geld. Einer Familie mit niedrigem Einkommen wird eine bessere Anbindung an das nächste Kino nicht helfen, wenn sie sich das Kino selbst nicht leisten kann. Ein reiner Ausbau der Mobilitätsinfrastruktur führt also nicht immer zu den gewünschten Ergebnissen. Die Ergebnisse aus Berlin verdeutlichen einige dieser Erkenntnisse anschaulich.

Fokus Berlin: für die polyzentrische Kiez-Stadt ist allein «mehr Angebot» keine Lösung

Berlin ist eine polyzentrische Stadt mit hoher Strahlkraft und enormem Wachstum. Dennoch gehören gewisse Stadtteile zu den ärmsten Regionen Deutschlands. Soziale Brennpunkte liegen Tür an Tür mit stark gentrifizierten Stadtvierteln. Relativ betrachtet, hat Berlin ein starkes ÖPNV-System bei welchem «Ost-West» keine große Rolle spielt (wenngleich sich das Mobilitätsangebot z.B. bei Straßenbahnen durchaus unterscheidet). Trotz des hohen Leistungsniveaus des ÖPNV besteht grosses Potential für inklusivere Mobilitätssysteme. Unzuverlässige Barrierefreiheit aufgrund fehleranfälliger Fahrstühle, schlechte Informationsinfrastruktur für z.B. Blinde oder Menschen mit kognitiven Einschränkungen, sowie komplizierte Ticketautomaten sind nur einige Beispiele, die uns Expert:innen und Betroffene schilderten.
Dabei nimmt Berlin die Inklusionsfrage sehr ernst, wie ein beispielhafter Blick auf vier bereits bestehende bzw. eingeleitete Verbesserungsmassnahmen zeigt:

  1. Das Berliner Mobilitätsgesetz hält erstmalig die Bevorzugung des Umweltverbundes «ÖPNV, Fahrrad, Fuss» gegenüber PKW auf legislativer Grundlage fest und definiert inklusive Mobilität als höchstes Ziel.
  2. Der Berlin Pass ermöglicht Menschen mit geringem Einkommen Mobilität zu niedrigen Monatspreisen.
  3. Die Erweiterung der 10-Minuten-Taktung im ÖPNV verbessert das Mobilitätsangebot für Menschen, die in äussere Stadtbezirke verdrängt wurden und verringert lange Wartezeiten zu später Stunde an verlassenen Bahnsteigen.
  4. Das «BerlMobil» (ehemals «Sonderfahrdienst») ermöglicht persönlichen Support für Ältere und mobilitätseingeschränkte Berliner:innen.

Dennoch lassen sich die sozialen Herausforderungen in Berlin nicht einzig auf typische Mobilitätslücken zurückführen. Transportmittel sind nicht die alleinigen Determinanten urbaner Mobilität. Eine Reihe weniger greifbarer, schwer zu messenden Faktoren, die das Mobilitätsverhalten einer Bevölkerung prägen (wie Kultur, Bildung, soziale Wahrnehmung, Gemeinschaftsstruktur und Sprache) sind ebenfalls zu beachten. In Berlin beschränken viele Bürger:innen ihre eigene Mobilität auf einen einzigen Stadtteil. Der polyzentrische Charakter der Stadt erlaubt, dass diese Gemeinschaften dennoch Arbeit und Ausbildung finden können, ohne viel und lange «unterwegs» sein zu müssen. Massnahmen, die Stadtteil-übergreifende Mobilität fokussieren, brächten also nicht zwangsläufig die gleichen positiven Effekte wie z.B. in Chicago. Alles in allem dürfen sich inklusive Mobilitätssysteme also nicht nur auf das Schaffen von Verkehrsangebot konzentrieren. Vielmehr sollten sie die Nachfrageseite, also die Bürger:innen Berlins, in den Mittelpunkt stellen.

Kontakt

Dr. Philipp Scharfenberger, philipp.scharfenberger@unisg.ch
Philipp Silvestri, philipp.silvestri@unisg.ch